- Konfliktforschung: Hoffnung auf eine Welt ohne Krieg
- Konfliktforschung: Hoffnung auf eine Welt ohne KriegIst eine kriegerische Auseinandersetzung oder ein gewaltsamer Konflikt beendet, wird meist von erfolgreicher Streitbeilegung, von Kriegs- und Konfliktbeendigung oder sogar von einer Lösung des Konflikts und manchmal auch davon gesprochen, der Frieden habe wieder Einzug gehalten. Unter Frieden wird auf diese Weise die Abwesenheit von Feindseligkeiten oder von direkter Gewaltanwendung zwischen den Konfliktparteien verstanden. Friede wäre dann — analog dem Begriff der Gesundheit in der Medizin — die Abwesenheit bestimmter, das menschliche Zusammenleben störender Faktoren. Diese Minimaldefinition des Friedens als Abwesenheit von Krieg und von Gewalt ist nun seit langem in der Diskussion und in der Kritik.Positiver und negativer FriedeDie Friedens- und Konfliktforschung hat zwischen positivem und negativem Frieden unterschieden. Dabei versteht sie das einfache Fehlen von kriegerischen Auseinandersetzungen und direkter personaler Gewalt lediglich als negativen Frieden. Demgegenüber gilt als positiver Frieden die Abwesenheit auch struktureller, indirekter Gewalt und damit im Grund die Verwirklichung umfassender sozialer Gerechtigkeit, die sich keineswegs in bloß formal juristischer Gleichheit der Staaten oder Individuen erschöpfen darf. Ein positiver Friedensbegriff hat also stets einen utopischen Kern, der eine regulative Idee darstellt, an der sich die normative Kritik an bestehenden unfriedlichen Verhältnissen orientieren kann.Ist der Friedensbegriff damit nur ein Lehr- oder Reflektionsbegriff, um die soziale Tatsache des Kriegs bezeichnen zu können, oder eröffnet er auch einen Ausblick auf weiter reichende, den Zustand des Nichtkriegs überwindende Ziele? Von Georg Picht stammt die Aussage, zum Wesen des Friedens gehöre, dass er nicht definiert werden kann. Frieden kann also immer nur als eine Annäherung an einen bestimmten, wünschenswerten Zustand verstanden werden. Darüber hinaus lässt sich ein positiver Frieden als eine Formel betrachten, die mit je eigenen, spezifischen politischen, ökonomischen und sozialen Wertvorstellungen aufgefüllt wird.Wenn Frieden also mehr ist als die Abwesenheit von Krieg und Gewalt, dann muss dieses »Mehr« qualifiziert werden. Der Friedensforscher Ernst-Otto Czempiel hat dies zunächst ganz allgemein als Existenzerhaltung und -entfaltung bezeichnet. Sein zweistufiger Friedensbegriff hebt darauf ab, die Anwendung von Gewalt bedrohe die physische Existenz des Einzelnen und müsse vermieden werden. Mit diesem Plädoyer für Gewaltlosigkeit und für Gewaltverzicht wird zwar die Existenz des Einzelnen erhalten, aber darüber hinaus muss auch dessen Existenzentfaltung durch angemessene Lebensbedingungen gewährleistet und gesichert werden. Hier geht es also um die Selbstverwirklichungsmöglichkeiten und die Entfaltungschancen, ohne die eine menschliche Existenz nicht denkbar ist.Bedingungen friedlichen ZusammenlebensDer langjährige Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung, Wolfgang Vogt, hat jüngst ein Prozessmodell für eine kritisch-reflexive Friedenstheorie aufgestellt. Es zielt nicht nur auf den innergesellschaftlichen Bereich ab, sondern berücksichtigt auch weltgesellschaftliche und zwischenstaatliche Entwicklungen. Vogt entwirft ein multidimensionales Modell, welches sich an den utopischen Zustand Frieden annähern soll.In dessen Mittelpunkt steht ein Prozess der Zivilisierung, der die bewusste Aggressionsbeherrschung und Gewaltregulierung der Individuen und der Gesellschaften mithilfe gewaltfreier oder gewaltarmer Strategien der Konfliktbearbeitung zum Zweck einer nachhaltigen Friedensmodellierung anstrebt. Zivilisierung muss dabei zugleich als Prozess, Prinzip und Produkt betrachtet werden. Sie zielt darauf ab, Lebenslagen, Lebenswelten und Lebensweisen der einzelnen Menschen und Völker friedlicher zu machen. Als Mittel dazu gelten Gewaltreduzierung, Konfliktregulierung und eine aktive Friedensmodellierung. In politisch-rechtlicher Perspektive zielt Zivilisierung auf eine möglichst gewaltfreie und waffenarme kollektive Sicherheits- und demokratische Ordnung ab, in ökonomisch-sozialer Hinsicht auf eine möglichst umfassende Versorgungssicherheit und Verteilungsgerechtigkeit, in ökologischer Perspektive auf die Erreichung einer nachhaltigen Entwicklung und auf ein ökologisches Gleichgewicht, in technologischer Hinsicht auf die über reine Funktionalität hinausgehende Erreichung von humaner und nützlicher Technik, sowie schließlich in kulturell-individueller Hinsicht auf eine zivile Konfliktkultur und flexible Identitätsbalancen.Ein friedliches Zusammenleben der Völker und der Menschen ist von komplexen Voraussetzungen und Bedingungen abhängig. Das Ende des Ost-West-Konflikts hat jedenfalls nicht dazu beigetragen, Kriege und gewaltsame Konflikte ein für alle Mal zu beenden. Vielmehr werden die internationale Entwicklung, aber auch nationale Entwicklungsprozesse von widersprüchlichen Tendenzen geprägt. Die Globalisierung führt auf internationaler Ebene zu einer stärkeren Vernetzung und Interdependenz von Staaten, Gesellschaften und Menschen. In diesem Prozess kommt es zur Herausbildung einer internationalen Zivilgesellschaft, zu einer wachsenden Kooperation internationaler Institutionen, zur politischen Abstimmung mittels internationaler Regime, und es gibt so etwas wie ein gemeinsames Weltethos, das sich in der grundlegenden Anerkennung von universalen Werten und Menschenrechten niederschlägt.Andererseits vermehren sich mit der Globalisierung auch die Risiken, wie Ausschluss von den Globalisierungsvorteilen, Arbeitslosigkeit, grenzüberschreitende Kriminalität, Drogenmissbrauch und Umweltzerstörung aus Gründen von Wettbewerbsvorteilen sowie Verfestigung von Unterentwicklung. Individualisierungsprozesse lösen scheinbar gesicherte Identitäten auf, die Liberalisierung und Deregulierung der einzelnen Volkswirtschaften verschärft zunächst soziale Ungleichheiten und vertieft gesellschaftliche Spaltungen, die erneut in ethnische Gewalt umschlagen können oder als Gegenreaktionen einen verschärften Nationalismus und/oder auch Protektionismus hervorzurufen vermögen. So steht eine wachsende weltgesellschaftliche, politische Integration einer ebenso schnell wachsenden politischen und sozialen Fragmentierung gegenüber, die erneut eine Ursache für gewaltsame Konflikte sein kann.Globalisierte Modernisierungsprozesse sind also problematische und konfliktträchtige Prozesse, weil sie die herkömmliche Grundlage der ökonomischen Reproduktion, überkommene Schichtungs- und Klassenmuster, gängige kollektive Werteorientierungen und in der Folge auch traditionelle Herrschaftsverhältnisse infrage stellen. Gesellschaften, die beschleunigten Modernisierungsschüben ausgesetzt sind, geraten in diesem Prozess mit sich selbst und manchmal auch mit anderen in Konflikt. Eine öffentliche Ordnung zu gestalten, die sich durch eine Pluralität von Identitäten und Interessen als unhintergehbaren Tatbeständen, durch soziale Gerechtigkeit, durch Gewaltarmut und durch Freiheit von kriegerischen Konflikten auszeichnet, gehört zu den großen Kulturaufgaben der Menschheit, wo immer Modernisierung stattfindet. Kriege und gewaltsame Konflikte sind jedenfalls keine Naturereignisse, sondern von Menschen gemacht. Insofern bleibt auch die Hoffnung auf eine Welt ohne Krieg und Gewalt.Dr. Peter ImbuschGrundlegende Informationen finden Sie unter:Konflikt: Friedliche Konfliktbearbeitung und KriegsverhütungFrieden durch Zivilisierung? Probleme — Ansätze — Perspektiven, herausgegeben von Wolfgang R. Vogt. Münster 1996.Frieden machen, herausgegeben von Dieter Senghaas. Frankfurt am Main 1997.Friedens- und Konfliktforschung. Eine Einführung mit Quellen, herausgegeben von Peter Imbusch u. a. Opladen 21999.Friedliche Konfliktbearbeitung in der Staaten- und Gesellschaftswelt, herausgegeben von Norbert Ropers und Tobias Debiel. Bonn 1995.Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen. Taschenbuchausgabe München 1998.Kriegsursache Umweltzerstörung. Ökologische Konflikte in der Dritten Welt und Wege ihrer friedlichen Bearbeitung. Abschlußbericht des Environment and Conflicts Project ENCOP, herausgegeben von Kurt R. Spillmann u. a. 3 Bände. Zürich 1996.Kultur des Friedens. Wege zu einer Welt ohne Krieg, herausgegeben von Wolfgang R. Vogt u. a. Darmstadt 1997.Matthies, Volker: Immer wieder Krieg? Eindämmen — beenden — verhüten? Schutz und Hilfe für die Menschen? Opladen 1994.Meyers, Reinhard: Begriff und Probleme des Friedens. Opladen 1994.Müller, Harald: Das Zusammenleben der Kulturen. Ein Gegenentwurf zu Huntington. Frankfurt am Main 21999.Der neue Interventionismus. Humanitäre Einmischung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, herausgegeben von Tobias Debielund Franz Nuscheler. Bonn 1996.Scherrer, Christian P.: Ein Handbuch zu Ethnizität und Staat, Bd. 1: Ethno-Nationalismus im Weltsystem. Münster 1996.Smith, Dan: Der Fischer-Atlas Kriege und Konflikte. Aus dem Englischen. Frankfurt am Main 1997.Van Creveld, Martin: Die Zukunft des Krieges. Aus dem Amerikanischen. München 1998.
Universal-Lexikon. 2012.